Bei traumhaften Wetter durfte ich diesen Sommer eine Woche im Engadin verbringen. Immer auf meiner Wunschliste: Soglio im Bergell. Warum? Weil Soglio ein Dorf wie aus dem Bilderbuch ist. Nicht umsonst bezeichnete der Maler Giovanni Segantini, der hier einige Jahre überwinterte, Soglio als: Die Schwelle zum Paradies.
Ein Dorf, in dem es scheint, als stehe die Zeit still. Enge Gassen, an den Hang geduckte Steinhäuser. Wie in viele Bergdörfern, so auch hier: Die Jungen wandern ab, die Alten sterben aus und mit ihnen die alten Bräuche und Kulturen.
Der höchste Kastanienwald Europas
Hinauf geht es steil, vorbei an den Kastanienwäldern mit den Kastanienhäuschen. Fast märchenhaft. Die Kastanie war ein wichtiges Grundnahrungsmittel der Bewohner. Viele Bewohner Soglios hatten so ein Häuschen, drumherum die Bäume. Die Kastanien wurden geerntet, getrocknet oder verarbeitet. Heute liegen die meisten Häuschen brach, die Bäume stöhnen unter der Last des Alters. Um so erfreulicher, das die Nachfrage nach Kastanien Produkten wieder zunimmt.
Das Dorf liegt wie ein Nest am Steilhang, verteilt auf Terrassen aus Stein. Die Arbeit der Bauern früher mühselig. Alle Hänge steil und kaum befahrbar. Das Heu händisch gemäht, eingesammelt und in Körben in die Ställe gebracht.
Die Häuser aus Stein gebaut, enge aneinander, um Wind und Wetter zu trotzen. Die Dächer mit grauem Bergeller Gneis gedeckt. Wie geduckt stehen sie eng aneinander geschmiegt am Hang. Schmale Häuser, mit kleinen Fenstern und steilen Treppen. Man fragt sich: Wie lebt es sich da drinnen? Ich durfte einen Blick hineinwerfen, steile, enge Treppen führen in die Stockwerke. Kleine Fenster trotzen Sommer und Winter. Das das Leben hier nicht leicht ist, spürt man.
Soglio – Ein altes Dorf, das in die Zukunft blickt.
Wird Soglio seinen Weg in die Zukunft finden? Bei meinem Besuch war das Dorf leer, nur wenige Touristen haben den Weg gefunden. Wer hier bleibt, muss mit der Einsamkeit und en Strapazen der Berge leben wollen.
Alles scheint hier weit weg, auch der nächste Supermarkt. Bescheidenheit scheint den Bewohnern weitervererbt. Zwei kleine Läden versorgen mit dem Wichtigsten. Einen Besuch wert ist ein kleiner Laden mit Natur- und Kosmetikprodukten aus Soglio. Verarbeitet werden Rohstoffe aus der Berglandwirtschaft, produziert wird ebenfalls im Bergell. Nicht billig, aber schon um die Menschen in einem der abgelegensten Täler Graubündens zu unterstützen, sollte man sich dort etwas gönnen.
Wenn man hier herkommt, denkt man automatisch ans Aussteigen, ans Dableiben. Und doch wagen das nicht viele. Zu weit weg von den Skipisten, den Touristenzentren, ist Soglio ein Stück Schweiz, wie es ursprünglicher nicht sein könnte.
Versteckt hinter dicken Steinmauern überraschen mich üppige Gärten, winzige Plätze mit Brunnen und grosse Waschbrunnen, an denen früher von der Nonna Wäsche gemacht wurde. Nahe an Italien, so meint man, Italien schon riechen zu können. Im Zentrum herrschaftlich der Palazzo Salis, ein Art Stadtpalais, das man dort nicht erwarten würde. In ihm ein Hotel und Restaurant mit romantischem barocken Garten. Schnell versteh man, warum der Dichter Rainer Maria Rilke hier auf Inspirationssuche zu Gast war.
Aktuell hoch im Kurs sind Neubauten und die Umnutzung alter Gebäude. Einige der alten Ställe haben mit Hilfe innovativer Architekten eine neue Aufgabe als Wohnhaus erhalten. Der Glauben des Dorfes an die Zukunft und die Innovation ist spürbar.
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